Wenn schon in Bolivien auf einen Berg steigen, dann richtig. Der bekannteste der schneebedeckten Riesen rund um La Paz ist der Huayna Potosí und der ist mit 6‘088 Metern über Meer und als Tour in zwei oder drei Tagen von der Stadt aus machbar.
Valerio, unser Guide vom Titicacasee, hatte die Tour dankenswerterweise über seinen Freund Don Juan noch während dem Aufenthalt auf der Isla del Sol beziehungsweise auf der Rückfahrt im Bus gebucht. Die Agency heisst Mountaining Guide Bolivia/Peru und dort wollten wir eigentlich gleich nach unserer Rückkehr in die Stadt am Mittwochabend vorbeigehen. Aber kurzfristig ging dies wegen dem 1. Mai dann doch nicht, worauf wir uns auf den Austausch via WhatsApp verliessen, ohne die Agency oder das Equipment vor dem Buchen gesehen zu haben.
Mit unseren kleinen Rucksäcken sollten wir am Donnerstagmorgen um 8.30 Uhr Valerio in der Stadt treffen, der für uns auch den sehr guten Preis von 850 Bolivanos pro Person für die drei Tage ausgehandelt hatte.
Aufgrund eines tragischen Erdrutsches wurde in La Paz eine wichtige Strasse verschüttet (https://www.20min.ch/ausland/news/story/17-Haeuser-rutschen-einen-Hang-herunter-28534700). Das kommt hier offenbar immer wieder vor, und so war das Gebiet vor der Naturkatastrophe bereits geräumt worden und niemand kam zu Schaden. Der umgeleitete Verkehr führte dazu, dass unser Collectivo Büssli anstatt zwanzig Minuten eine Stunde und einen Viertel benötigte. Wir wälzten während der Fahrt verschiedene Optionen, aber keine hätte uns schneller an den Zielort gebracht.
Als wir in der Agency ankamen, waren Davide und Selene, ein Päärchen aus Milano (https://caracoling.com/chisiamo/), bereits mit der Anprobe beschäftigt. Wir probierten ebenfalls Bergschuhe für das Laufen auf dem Gletscher mit Steigeisen, Daunenjacken, nicht ganz geschmacksneutrale ungewaschene Handschuhe, Gesichtsschutz, wasserdichte (oder auch nicht) Bergsteigerhosen, fassten unsere Stirnlampen und Helme und packten alles in grosse Rucksäcke. Bei den Rucksäcken zeigte sich, dass es beim Tragkomfort durchaus Unterschiede gibt. „Wird schon passen!“ dachten wir und stiefelten alle zusammen zum Collectivo, wo wir uns von Valerio verabschiedeten und uns für die Wanderstöcke bedankten, die er uns zusätzlich auslieh.
Im Collectivo ging es einmal mehr über holprige Strassen - Wicky Terrain - dachten wir uns. Auf dem Weg zum Base Camp hielten wir zweimal kurz an, um Fotos von unserem Ziel sowie einer alten Mine und den umliegenden farbigen Lagunen zu machen.
Im Base Camp beim Paso Zongo, wo uns unsere Guides Ronald und Javier bei der Unterkunft Happy Day in Empfang nahmen, komplettierten wir unsere Ausrüstung. Nun waren wir schon auf einer Höhe von rund 4’700 M.ü.M. Schon bei kleinen Anstrengungen merkten wir die Höhe und: Wir waren schon höher als der Gipfel vom Matterhorn! Wir bezogen unsere Betten im Massenlager und sassen schon bald darauf gemütlich beim reichhaltigen Mittagessen und unterhielten uns auf Spanisch mit unseren Mitgipfelstürmern aus Italien. Unser Italienisch ist ja unterdessen in einem tiefen Winterschlaf, so dass wir uns sogar mit Italienern auf Spanisch verständigen müssen.
Am Nachmittag vom Tag 1 stand eine Einführung auf dem Gletscher auf dem Programm. Wir packten unsere Sachen ein und wanderten hoch zum nahegelegenen Gletscher. Der Tag dient auch zur Akklimation an die Höhe, und so stampften wir mit unseren Steigeisen den Gletscher rauf und runter und übten verschiedene „Manöver“ auf dem Eis unter fachkundiger Anleitung. An einer kleiner Eiswand bohrten unsere Guides Eishaken und installierten zwei Stände, um anschliessend das Abseilen und Eisklettern als Übung zum Umgang mit dem Eisbeil und Steigeisen im sehr steilen Gelände. Beim Eisklettern kamen wir beide ziemlich ausser Atem, schliesslich hatten wir unterdessen auch die Höhe des höchsten Punktes in Europas - des Mont Blanc mit 4‘810 Metern - überschritten. Wobei wir gerade jetzt beim Schreiben feststellen, dass umstritten ist, welches tatsächlich der höchste Hügel in Europa ist (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Berge_oder_Erhebungen_in_Europa). Als wir zurückkamen, erwartete uns ein reichhaltiger Z’vieri und wir waren uns sicher, dass wir nicht verhungern werden. Wir tranken viel Mate de Coca, was beim Angewöhnen an die Höhe helfen soll.
Am Abend gingen wir sehr früh zu Bett, da wir so etwas wie Vorschlafen sollten, denn wegen der zunehmenden Höhe, der Nervosität und den Platzverhältnissen im High Camp würden wir vor dem Besteigen des Gipfels nicht viel Schlaf kriegen. Da wir ja bereits in unserem Trainingslager am Titicacasee wegen der Höhe nicht viel geschlafen hatten, war uns dieser Vorschlag sympathisch.
Geschlafen hatten wir dann trotzdem sozusagen nichts, was wohl wiederum an der Höhe gelegen haben muss. Oder ob es wohl daran gelegen hatte, dass wir so viel Mate de Coca getrunken hatten? So stiegen wir am Tag 2 gerädert aus den Betten, in denen wir in unseren Schlafsäcken mit den dicken Wolldecken sehr warm hatten. Wenigstens hatten wir keine Kopfschmerzen und als wir nach draussen gingen, erwartete uns das perfekte Bergwetter.
Nach dem Frühstück hiess es Packen und Bereitmachen, um zum High Camp auf 5‘250 Meter aufzustiegen. Zwei Südkoreaner waren zusätzlich zu uns gestossen, sie hatten sich für die 2-Tagesvariante entschieden.
Mit einigen notwendigen Verschnaufpausen und zur Entspannung aufgrund der ungewohnten und unbequemen Rucksäcken erreichten wir um vier Uhr nachmittags das Camp. Wir waren im höchstgelegenen der verschiedenen Refugios und hatten dafür am Schluss nochmals ein ziemlich steiles und steiniges Stück meistern müssen. Damit würden wir aber in der Nacht direkt vom eine Minute entfernten Gletscher den Aufstieg in Angriff nehmen können. Zudem konnten wir eine grosse Menge Condore und den Ave Maria beobachten, wie sie in der Thermik kreischend ihre Kreise zogen.
Prisca opferte sich, unsere Schlafplätze zu beziehen und das Material zu verstauen. Da die Küche direkt neben den Schlafräumen lag und trotz schönem Wetter mit den Gaskochern im Innern der Berghütte Vollgas gekocht wurde, herrschten im Schlafraum gefühlte 45 Grad. Vor und nach dem mässigen Abendessen genossen wir eine traumhafte Aussicht auf die umliegenden Berge im Licht der untergehenden Sonne. Wir brachten der Pachamama einmal mehr Cocablätter als Opfer dar (gelernt ist gelernt - siehe Isla de la Luna) und baten um gutes Gelingen unseres Auf- und Abstiegs. Nach einem sehr guten Briefing durch die Guides zum Ablauf des dritten Tages, legten wir uns mit den anderen rund 60 Lagerbewohnern um 19:00 Uhr in die komplett durchgelegenen Holzbetten. Aufgrund des Platzmangels mussten einige Guides draussen übernachten. Da irgendwann während der kurzen Zeit zum Schlafen eine Gruppe zurückkam, die noch am Nachmittag zum Gipfel aufgestiegen war, wurde es irgendwann nochmals laut.
Ohne Medis bekamen wir die Auswirkungen der Höhe und des Schlafmangels zu spüren. Beim Aufstehen am Tag 3 um Mitternacht hätte sich Andreas am liebsten übergeben. Da muss man als Quasi-Bergsteiger in der Höhe nun einmal durch und diese Erfahrungen waren mit ein Grund, warum wir diese Tour machen wollten: Neues ausprobieren.
Nach dem Frühstücken war die Übelkeit vorbei, aber wir spürten beide die Nervosität und waren glücklich darüber, dass es bald losgehen sollte. Wir zogen die Steigeisen an und Julia, unsere Guia, knotete uns zu einer Seilschaft zusammen. Julia ist die Frau von Ronald, einem der anderen Guides und trug eine klassische Choleta Kleidung (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cholita) und nicht die eigentlich sonst übliche Sport- oder Bergsteigerkleidung.
Und dann ging das Leiden los. Wir stapften langsam in Gruppen mit je einem Guide auf maximal zwei Teilnehmer im Lichtkegel unserer Stirnlampen den Berg hoch. Alle dreissig Minuten machten wir fünf Minuten Pause, tranken Wasser oder Mate de Coca und snackten etwas kleines: Nüsse, etwas Schokolade oder drückten einen Riegel rein. Bis auf 5’600 Meter lief es uns und den andere in der Gruppe gut. Dann kamen die ersten Leiden. Übelkeit da, Erschöpfungserscheinungen und gutes Zureden dort. Einzelne Teilnehmer sahen bereits aus wie ein Häufchen Elend, wir waren erstaunt darüber, wie Menschen derart über ihre Grenzen hinaus gehen konnten. Aber auch darüber, dass die Guides alles unternahmen, um die Teilnehmer richtiggehend den Berg hochzuziehen.
Je weiter wir auf den Steigeisen hochstiegen, je steiler und anspruchsvoller wurde das Gelände.
Aufgrund des guten Wetters waren wohl gegen 60 Bergfreunde mit den Guides unterwegs, so dass es mehr und mehr zu Staus kam. Da einige der Teilnehmer den Gipfel nicht mehr ohne Hilfe der Guides
erreichen konnten und deshalb entsprechend aufwändig gesichert oder hochgezogen werden mussten, fühlten wir uns in dem Gedränge nicht gerade wohl.
Hinter unserem Rücken, im Süden, stachen immer wieder Blitze aus den Wolken hervor. Dieses Schauspiel aus unserer Höhe zu betrachten, war der Hammer.
Und dann war es geschafft: Im Licht der gerade aufgehenden Sonne erreichten wir nach rund fünf Stunden und zehn Minuten Aufstieg den Gipfel des 6‘088 Meter hohen Huayna Potosí. Im Gedränge auf dem Gipfel war die Freude etwas getrübt durch die Guides, die für ihre Dreierseilschaft die besten Plätze für Photos auf dem Gipfel ergattern wollten. Das Sichern auf dem für die vielen Menschen engen Platz gestaltete sich herausfordernd, aber auch wir kamen zu unseren Gipfelphotos.
Der fast wolkenlose Himmel bot uns eine eindrückliche Aussicht über die Hochebene, die Cordillera Real, die Stadt El Alto und La Paz bis hin zum Titicacasee.
Nach einer halben Stunde auf dem Gipfel machten wir uns auf den Rückweg. Julia band uns drei etwas enger zusammen, diesmal ging sie zuhinterst. Nun sahen wir erst, wo wir hochgestiegen waren. Der letzte Teil war eine schneebedeckte grosse Flanke mit einer Neigung von 30 - 45 Grad.
Wir spürten die grosse Müdigkeit, die Anstrengung der letzten Stunden und natürlich die Höhe. Andreas beschrieb seinen Zustand als eine Art Trance. Nun strahlte auch die Sonne mit voller Kraft, und mit der Daunenjacke und der auch sonst auf den Aufstieg in der Nacht ausgelegten Ausrüstung wurde es unerträglich heiss. Die Jacke musste weg. Wir hielten kurz an und danach war schon viel besser.
Nach 1:40 h kamen wir total erschöpft im High Camp an. Nun hiess es, die Ausrüstung zusammen packen, etwas essen, viel trinken und bereit machen für den - schon wieder - Abstieg zum Base Camp, unserer Happy Day Unterkunft vom ersten Tag.
Und während wir uns vorbereiteten, zog langsam - wie vorhergesagt - etwas Nebel auf und hüllte unseren bezwungenen Riesen aus Schnee und Eis in einen mystischen Schleier.
Wieder mit den schweren Rucksäckten umgeschnallt, trampelten wir los. So langsam hatten wir es gesehen mit Steinstufen und steilen Passagen.
Vom Base Camp ging es dann schlussendlich zurück in die Stadt, mit einem entnervten Chauffeur und müden und noch viel entnervteren Fahrgästen, weil der Fahrer die offenbar mit uns eingefahrene Verspätung wieder aufholen wollte.
Wir schnappten uns ein Collectivo zurück nach San Miguel. Wieder war Geduld gefragt, denn an diesem Samstag schienen alle auf der Strasse unterwegs zu sein. So langsam ging uns der Verkehr hier richtig auf den Senkel - wir wollten nur noch ins Appartement, eine heisse Düsche, Wäsche waschen und schlafen, schlafen, schlafen.
Was wir dann auch taten. Hatten wir uns schliesslich verdient.

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RetoC (Montag, 06 Mai 2019 07:39)
Habe jede Zeile Eures Blogs "mitgelitten", mitgenervt (Gipfel) und mitgenossen! Gratuliere! Gewaltsleistung!
Megge (Freitag, 10 Mai 2019 07:46)
Gratuliere Euch zu dieser super Leistung, bin froh, dass alles gut ging. Sicher ein unvergessliches Erlebnis..